Ich sehe was, was du nicht siehst!
Ein Spiel, das wir als Kinder spielten. Um es anderen leichter zu machen, wurde oft Farbe oder Form des Gegenstandes genannt, den man im Blick hatte. Diesen Satz einem blinden oder sehbehinderten Menschen zu sagen, wäre eine Frechheit. Doch einem Sehenden zeigt er, dass auch er nicht alles sieht, nicht alles im Blick haben kann. Sehen ist individuell und eingeschränkt. Viele Sprichwörter haben das Sehen und die Blindheit im Blick. „Man sieht nur mit dem Herzen gut! Liebe macht blind.“ Mit der Zeit gehen die Augen wohl dann doch auf. Aber auch „Hass macht blind.“ Hass und Dummheit kennzeichnen Fanatiker. Ob religiös oder nichtreligiös, sie blenden aus, was ihnen nicht passt. Selbst im Hellen verbreiten sie gespenstische Dunkelheit. Alles, was unheimlich ist, davor möchte man am liebsten die Augen schließen.
Viele in den Kirchen trauten ihren Augen nicht, als auch dort sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch von Amtsträgern ans Licht kamen. Nichts sehen, nur weil man etwas nicht sehen will, macht ebenfalls blind und ist brandgefährlich. Wie jeder Mensch, so brauchen auch immer wieder Institutionen, Kirchen, Verbände, Vereine den kritischen Blick von außen. Wie meinte ein Fernsehsender, mit dem Zweiten sieht man besser. Ich meine, mit anderen sieht man besser. Menschen brauchen einander, auch um sich hin und wieder die Augen zu öffnen. Am besten respektvoll und ohne Häme. Die eigene Sichtweise nicht wie einen nassen Lappen ins Gesicht schlagen, sondern eher wie einen Mantel hinhalten, in den sich leichter hineinschlüpfen lässt. Umso größer sind die Chancen, dass ein anderer auch wirklich tiefer sehen will. Wer um sich weiß, auch um eigene blinde Flecken, der könnte am Ende besser sehen. Sich selbst und die anderen.
Ihr P. Kammerinke