Fleiß, Hoffung und Genügsamkeit

Fleiß, Hoffung und Genügsamkeit

Gerda Herfurth wird am Samstag 100 Jahre alt. Sie erlebte Krieg und Vertreibung, aber auch Glück.

Eigentlich hatte Gerda Herfurth ihren 100. Geburtstag am Samstag nicht feiern wollen. Zu groß erschien ihr die dreistellige Zahl, die in Form von Kerzenziffern vor ihr auf der Torte stehen würden. „Doch jetzt, wo ich weiß, dass viele Gäste kommen, freue ich mich sehr darauf “, sagt die Seniorin und lächelt sanft.

Ihr großes Glück: Familie und Beruf

Am 16. November 1919 wurde Herfurth in Schlesien geboren, wuchs in Breslau auf. Ihre Mutter verstarb früh, als sie gerade einmal drei Jahre alt war. Der Vater, „ein Mann aus der Kaiserzeit“, erzog sie und ihre sechs Geschwister streng, erinnert sich Herfurth. „Wir haben gelernt, immer artig zu sein.“ In der Schule mochte sie Malen und Handarbeit. Sie sei nie sonderlich aufgefallen, war zurückhaltend und höflich. „Doch die Zeiten ändern sich“, sagt sie beiläufig. Es ist keine simple Floskel. Ihre Worte klingen belangvoll, weil sie aus Erfahrung spricht: Die Zeiten ändern sich, und sie hat vieles davon erlebt. Der Rauch der Ruinen des Ersten Weltkriegs wehten noch in der Luft, als Herfurth das Licht der Welt erblickte. Europa war in Aufruhr, während ein damals 14-jähriges Mädchen sich dazu entschloss, ihrer Leidenschaft zu folgen und eine Ausbildung als Damenmaßschneiderin zu absolvieren. Das war 1933, dem Jahr, in dem die Nazis die Macht ergriffen. „Es waren sehr schwere Zeiten“, entfährt es der Seniorin, schaut in die Ferne und schweigt. Die dreieinhalbjährige Lehre beendete sie erfolgreich und wurde in ihrem Ausbildungsbetrieb übernommen. „Das war immer meine große Leidenschaft.“

Im Jahr 1944 heiratete Herfurth ihre große Jugendliebe, und als sie 1947 von den Polen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, baute sie sich mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter Barbara ein neues Leben in Westerholt bei Recklinghausen auf. „Einfach war es nicht“, berichtet die Jubilarin. „Aber es musste ja weitergehen.“ Herfurth eröffnete ihre eigene Schneiderei, in der sie 25 Jahre lang ihre Kunden glücklich machte. Auch die Familie, Tochter, Enkel und mittlerweile auch Urenkel, profitierten von der handwerklich begabten Mutter, Oma und Urgroßmutter. „Den Enkeln habe ich die ein oder andere Hose geflickt“, erzählt die Seniorin und schmunzelt. Sie habe immer gerne getanzt und sei gerne gereist: „Wir sind immer nach Südtirol gefahren. Das war immer herrlich.“ Sie sei sehr naturverbunden gewesen.

Als ihr Mann dann vor 40 Jahren starb, zog Herfurth in die Nähe ihrer Tochter nach Lennep. Dort wohnte sie im Herzen des Ortes mit Blick ins Grüne: „Ich hatte eine wirklich schöne Wohnung mit einem großen Balkon, mit einer tollen Aussicht und so groß, dass man darauf tanzen konnte.“

Seit Februar lebt die Seniorin im Pflegeheim Haus Lennep. Nach einigen Stürzen konnte Herfurth, die seit 20 Jahren liebevoll von ihrer Tochter Barbara gepflegt wird, nicht mehr alleine im Haus bleiben. Die alten Knochen wollen nicht mehr wie sie. Ein ganzes Jahrhundert lastet auf ihnen. Doch die Dame mit dem sanften Gemüt hat sich erneut gut eingelebt. „Ich habe ein sehr schönes Zimmer, und die Leute sind alle sehr nett zu mir.“ Ihre Tochter ist weiterhin an ihrer Seite und beschreibt die Mutter als ruhigen und liebevollen Menschen. Eine genügsame Person mit sanftem Gemüt. „Mehrere Kinder hätte ich nicht erziehen können“, sagt Herfurth dann und lächelt erneut. „Dafür war ich nie streng genug.“ Verpasst habe sie in ihrem Leben nichts: Sie habe eine gute Ehe geführt und sei ihrer Leidenschaft nachgegangen. „So langsam aber“, sagt sie, „merke ich das Alter.“ Doch über die Schmerzen beschweren will sie sich nicht. „Das bringt nichts. Die kann mir keiner abnehmen.“ Tanzen will sie auf ihrer Geburtstagsfeier trotz- dem, wenn auch nicht mehr auf den Beinen, dann zumindest in ihrem roten Tanzstuhl.

Bildquellen

  • Gerda Herfurth freut sich auf ihren Geburtstag.: Foto: Cristina Segovia

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