Lüttringhauser Anzeiger

„Es ist Realität, dass Menschen an diesem Virus sterben“

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Im Gespräch mit unserer Redaktion berichtet Thomas Neuhaus, Leiter des Corona-Krisenstabs in Remscheid, über die aktuell sehr ernste Infektionslage. Foto: LA-LiB-Archiv

VON STEFANIE BONA

Seit mehr als einem Jahr leitet Thomas Neuhaus den Corona-Krisenstab der Stadt Remscheid. Derzeit ist die Situation anhaltend kritisch, Remscheid hat aktuell die höchste Sieben-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Infizierten pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche, in ganz Nordrhein-Westfalen. Mit unserer Redaktion sprach der Sozialdezernent über die gerade eingeleiteten Maßnahmen zur Pandemieeindämmung, über die Gründe für die hohen Infektionszahlen vor Ort, über Perspektiven und auch über seine persönliche Belastung in der nunmehr dritten Pandemiewelle.

Herr Neuhaus, die Infektionszahlen nehmen eine bedrohliche Entwicklung – vor allem in Bezug auf die wenigen noch vorhandenen Intensivbehandlungsplätze vor Ort. Sie haben am Wochenende reagiert, was können Sie jetzt noch tun?

Thomas Neuhaus: Heute haben wir bei der Inzidenz die 300 deutlich überschritten, alleine gestern gab es 81 neue Fälle. Es wäre unverantwortlich, in dieser Phase die Schulen wieder zum Präsenzunterricht zurückkehren zu lassen. Deshalb gibt es jetzt die Maßgabe, den Distanzunterricht erst einmal beizubehalten. Dies hatten wir auf kommunaler Ebene beschlossen, das Land ist uns mit seiner Entscheidung, bei einer 7-Tages-Inzidenz von über 200 es weiter beim Homeschooling zu belassen, zuvorgekommen. Wir müssen die Schülerinnen und Schüler und natürlich auch das Personal in den Schulen schützen. Seit Dienstag gelten nun die Ausgangsbeschränkungen und die weiteren Maßnahmen zur Kontaktreduzierung. Das alles wirkt natürlich nicht sofort. Ich appelliere dringend, dass die Menschen ihre Kontakte auf das Notwendigste beschränken und auch von den Testangeboten Gebrauch machen, damit wir Infektionsketten so früh es geht unterbrechen können.

Wir haben in Remscheid aktuell die höchsten Infektionszahlen in NRW. Worauf führen Sie das zurück?

Das hat aus meiner Sicht verschiedene Gründe. Wir haben im Stadtgebiet mittlerweile 52 Teststellen für die kostenlosen Bürgertests. Über 900 Testungen pro Tag werden inzwischen durchgeführt, davon waren zwischen zwei und 3,8 Prozent positiv. Das addiert sich zum normalen Geschehen dazu. Dabei ist diese Testbereitschaft positiv zu bewerten, wir wollen ja nicht mit Scheuklappen durch die Pandemie laufen. Denn – wie gesagt – damit können wir das Infektionsgeschehen besser kontrollieren. Weiterhin müssen wir die Wirtschaftsstrukturen in Remscheid mit ihrer industriellen Prägung beachten. Es gibt bei uns immer noch viele Firmen, bei deren Arbeitsplätzen Kontakte unvermeidlich sind. Für Wohnverhältnisse gilt häufig das gleiche. So findet das Virus sowohl im Bereich der Arbeit als auch beim Wohnen optimale Verhältnisse zur Verbreitung. Die Corona-Müdigkeit in der Bevölkerung kommt natürlich hinzu.

Kein großes Verständnis gibt es für die Regel, die Grünanlagen wie zum Beispiel den Hardtpark oder den Kuckuck, zu schließen.

Der Spaziergang alleine oder zu zweit ist überhaupt nicht das Problem. Wir wissen aber, wo sich Menschenansammlungen aus unterschiedlichen Anlässen bilden, nämlich unter anderem dort in den Parks. Wenn sich herausstellt, dass manche sich an keinerlei Regeln halten, müssen wir das sanktionieren und solche Treffen unterbinden.

Viele, wahrscheinlich die meisten der Remscheiderinnen und Remscheider, haben Verständnis für die geltenden Einschränkungen. Gleichwohl gibt es scheinbar eine nicht zu unterschätzende Zahl von Bürgern, die das alles als nicht notwendig erachten. Diesen Eindruck gewinnt man vor allem in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke. Wie können Sie diese Menschen erreichen?

Indem wir immer wieder erklären, wie ernst die Situation ist. Wir bekommen aus erster Hand mit, wie sich die Lage auf der Intensivstation des Sana-Klinikums zuspitzt. Es sind vermehrt jüngere Menschen, die vom Tod bedroht sind oder durch die Covid-Erkrankungen mit weitreichenden Folgen für ihre Gesundheit zu rechnen haben. Besonders betroffen machen die Berichte von infizierten Schwangeren. Das Virus und vor allem seine Mutante ist hoch aggressiv. Es ist eine Naturkatastrophe, daran können wir nicht vorbei sehen. Es ist Realität, dass Menschen an diesem Virus sterben. Das müssen wir sehen und können nicht auf der Basis von Fiktion arbeiten.

Zur Kontaktnachverfolgung sind digitale Lösungen erwünscht. Wann kommt bei uns die Luca-App?

Die Luca-App wird kommen. Die Unternehmen und Verbände haben sich diese App gewünscht, wir konnten das aus vergaberechtlichen Gründen nicht vorschreiben. Die Hausaufgaben sind gemacht, zehn Betriebe machen bereits mit, weitere werden kommen, da bin ich sicher.

Herr Neuhaus, Sie sind Remscheids Beigeordneter für Soziales, Schulen und den Sportbereich. Nun beschäftigen Sie sich seit mehr als einem Jahr an der Spitze des Krisenstabs mit der Pandemiebekämpfung. Wie geht es Ihnen persönlich dabei?

Aus Stress habe ich fünf Kilo zugenommen, ich habe ein schlechtes Gewissen gegenüber meiner Familie, für die ich keine Zeit finde. Genauso wenig komme ich zum Ausruhen, es ist schon alles sehr, sehr anstrengend – für das ganze Team des Krisenstabs. Aber als Beigeordneter habe ich diese Aufgabe angenommen und habe zu funktionieren, so lange, bis der Oberbürgermeister den Krisenstab auflöst. Wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger freue auch ich mich auf einen Urlaub, auf ein Konzert oder auf ein Fußballspiel, das ich mir mit meinem Sohn anschauen möchte.

Wann wird das soweit sein? Sehen Sie eine Perspektive?

Ich bin zunächst optimistisch, dass die dritte Welle in vier bis sechs Wochen gebrochen sein wird. Parallel mit dem Impffortschritt werden wir dann eine Perspektive haben. Wir haben jetzt im Impfzentrum in der Sporthalle West die fünfte Impfstraße eingerichtet und schaffen mittlerweile 1.000 Impfungen am Tag. Hinzu kommen die Hausärzte und hoffentlich in absehbarer Zeit die Betriebsärzte, die auch impfen. Unser Ziel muss sein, in kürzester Zeit das zu verimpfen, was an Impfstoff bei uns ankommt. Die wesentliche Lösung, aus der Pandemie herauszukommen, ist das Impfen – auch bei uns in Remscheid.