Lüttringhauser Anzeiger

Leben auf der Warteliste

Deutschlandweit warten fast 10.000 Patienten derzeit auf ein Spenderorgan. Lediglich 955 Menschen wurden 2018 nach ihrem Tod zu Lebensrettern.

Ruhig liegt Karl-Heinz Friedhoff da, unter einer dünnen Decke, schaut ab und zu auf den Fernseher, der lautlos im Zimmer hängt. Still ist es im Raum, bis sich jemand kurz räuspert: Neben Friedhoff liegen fünf weitere Herren im sterilen Raum, angeschlossen an große graue Maschinen. Sie alle sind Patienten von Via Medis, einem Nieren- und Dialysezentrum im Lenneper Jägerwald.

Transplantation brachte fast 20 Jahre Lebensqualität
Dreimal die Woche ist Friedhoff im Zentrum, um sein Blut von den Maschinen reinigen zu lassen. Seine Nieren, die eigentlich diese Funktion innehaben, gaben die Arbeit bereits 1977 auf. Seitdem ist der heute 79-Jährige auf die Dialyse angewiesen. Friedhoff war 37, als seine Nieren versagten. Der selbstständige Metzger musste sein komplettes Leben umstellen und der Dialyse unterstellen. Statt der geliebten Wurst durfte er nur noch eiweißarme Speisen zu sich nehmen, um den Körper nicht zusätzlich zu belasten. Körperliche Tätigkeiten gingen nur bis zu einem gewissen Maß. Vier Jahre wartete er auf eine Transplantation. Als die lang­ersehnte Spenderniere kam, musste sie ihm nach zehn Tagen wieder entfernt werden. „Sie sprang einfach nicht an“, erinnert sich der 79-Jährige. Erst drei Jahre später wurde eine andere passende Niere für ihn gefunden. „Die darauffolgenden 19 Jahre waren die schönsten meines Lebens.“

Sein Sohn, der 1975 zur Welt kam, hatte seinen Vater nur als schwachen Mann kennengelernt. „Nach der Transplantation war ich wieder mobil, konnte mit meinen Sohn spielen und herumtollen.“ Auf seine Gesundheit achten musste der Transplantierte weiterhin. Immunsuppresiva sorgten zwar dafür, dass die neue Niere von seinem Körper nicht abgestoßen wurde, das schwache Immunsystem aber war auch anfälliger für andere Krankheiten. Regelmäßig musste er zur Kontrolle, um die Nierenwerte zu überprüfen. Trotzdem, sagt Friedhoff: „Durch die Spende habe ich 19 Jahre an Lebensqualität gewonnen.“

2003 gab die Spenderniere auf und Friedhoff musste wieder auf mechanische Systeme zurückgreifen, um den Körper zu entgiften. Vier Jahre lang geschah das über die Peritoneal-Dialyse von zu Hause aus. Vier Mal täglich musste er sich über einen Katheter im Bauch eine Dialysat-Flüssigkeit einführen und nach einer bestimmten Zeit wieder abführen. Seit 2007 „hängt“ Friedhoff an der Hämodialyse und lässt sein Blut von der Maschine reinigen. Zeitaufwendig sei das Ganze, ein riesiger Einschnitt im Alltag – aber unerlässlich, um zu überleben. Ein Großteil seines Lebens stand er auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Jetzt weiß er, dass er seine restliche Zeit an der Maschine verbringen wird. Für ihn, sagt er selber, lohne sich eine Spende nicht mehr. Dennoch ist er dankbar, eine Spende erhalten und dadurch nahezu unbeschwert die Kindheit und Jugend seines Sohnes begleiten zu haben.

Nicht jeder kann spenden
Für Dr. André Indin ist der Fall von Karl-Heinz Friedhoff ein besonderer. Er ist der langjährigste Patient im Zentrum. „In der Regel warten unsere Patienten zehn bis zwölf Jahre auf ein passendes Spenderorgan.“ Nicht nur die Blutgruppe muss oder sollte übereinstimmen. Mehrere Faktoren müssen zum richtigen Zeitpunkt passen. Die kleinste Erkältung könnte einen Patienten als Empfänger unbrauchbar machen.

Zwar sind auch Lebendspenden im engsten Verwandtenkreis möglich, doch diese unterstehen strengen Prüfungen, erklärt Dr. Indin. Der potenzielle Spender muss nicht nur ausgiebig über den Ablauf und mögliche Risiken informiert werden. „Er braucht auch ein psychologisches Gutachten.“ Damit soll sichergestellt werden, dass der Spender das Ausmaß der Spende versteht.

Üblicher ist die postmortale Spende, für die nicht jeder infrage kommt, unterstreicht der Mediziner. Nur wer durch Hirnblutung oder Unfall einen Hirntod erleidet – und dessen Herz nur noch über eine Herz-Lungen-Maschine am Schlagen gehalten wird, kann theoretisch spenden, sofern keine Erkrankungen seine Organe für andere unbrauchbar machen.

Statistisch betrachtet, ist der Hirntod eher unwahrscheinlich: Bei 900.000 Todesfällen sterben in Deutschland etwa 400.000 Menschen im Krankenhaus. Davon wird gerade einmal ein Prozent (4000) für Hirntod erklärt. Dem gegenüber stehen 10.000 Menschen allein in Deutschland, die derzeit auf ein Spenderorgan warten. Aus dem letzten Jahresbericht der Deutschen Stiftung für Organtransplantation (DSO) für 2018 wird ersichtlich, dass in Deutschland 3113 postmortal gespendete Organe von insgesamt 955 Menschen transplantiert wurden, davon 1607 Nieren (Warteliste: 7526), 779 (851) Lebern, 338 (314) Lungen und 295 (719) Herzen.

Bundestag kippt Widerspruchslösung
Es könnten deutlich mehr Spender sein. Der Bundestag entschied sich kürzlich gegen die Widerspruchslösung, bei der jeder Bürger automatisch Organspender ist, sofern er dem nicht ausdrücklich widerspricht. Stattdessen gilt in Deutschland weiterhin, wer Organspender sein will, muss einen Spenderausweis beantragen. Das ist kostenlos und online möglich, und trotzdem haben viele, die grundsätzlich spenden würden, keinen Spenderausweis. Wie auch Dr. André Indin. Obwohl er täglich mit Patienten konfrontiert ist, die auf ein Spenderorgan warten und er keine medizinischen Bedenken gegenüber der Spende hat, besitzt der Mediziner selbst keinen Spenderausweis. Begründen kann er diesen Zustand nicht – wie so viele.

Gut zu wissen
Spanien ist Organspende-Weltmeister: Auf eine Million Einwohner kommen 46,9 Organspender, in Deutschland sind es 9,7. Dort gilt die Widerspruchslösung. Doch das, sagen Fachleute, sei nicht der Grund für die Spendenbereitschaft. Hinter dem Erfolg steckt ein staatliches System, die „Organización Nacional de Trasplantes“ (ONT), die dem spanischen Gesundheitsministerium untersteht. Geschulte Intensivmediziner sind darin als hauptamtliche Transplantationskoordinatoren aktiv, machen potenzielle Spender ausfindig und sprechen mit Angehörigen.

Bildquellen

  • Dr. med. André Indin (Facharzt für Innere Medizin – Nephrologie): Foto: Segovia